Die Armut der vielen und der Reichtum der wenigen


Arbeitsbereich Wirtschaft-Arbeit-Soziales lud zur Debatte über den Sozialbericht in Hessen


Von Karl-Günter Balzer

Susanne Selbert und Dr. Jochen Gerlach während der Aussprache (Fotos: Karl-Günter Balzer)
Susanne Selbert und Dr. Jochen Gerlach während der Aussprache (Fotos: Karl-Günter Balzer)

„Wenn uns jemand vor 25 Jahren gesagt hätte, es wird in jeder größeren Stadt Tafeln für bedürftige Menschen geben, hätten wir uns in Grund und Boden geschämt.“ Mit deutlichen Worten beklagte Susanne Selbert die neue Armut in Deutschland. Die erste Kreisbeigeordnete des Landkreises Kassel stellte am 28. Februar im Berufsbildungswerk Nordhessen in Kassel den 1. Sozialbericht des Landes Hessen vor. Eingeladen hatte das Referat Wirtschaft-Arbeit-Soziales der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.

Susanne Selbert
Susanne Selbert

Selbert wies darauf hin, dass es noch nie ein so hohes Armutsrisiko gegeben habe, wie zur Zeit. Nach der Armutsdefinition der EU ist in Deutschland jeder fünfte Mensch arm oder von Armut bedroht. Gleichzeitig bescheinigt eine Studie der OECD, dass Deutschland eine wachsende Einkommensungleichheit zu verzeichnen habe und nicht mehr zu den sozial ausgeglichenen Gesellschaften in Europa gehört. Die 1. Kreisbeigeordnete stellte fest, dass diese wachsende Ungerechtigkeit auch im Armutsbericht der Bundesregierung mit klaren Worten festgehalten worden sei. Allerdings seien gerade diese Feststellungen aus dem Armutsbericht getilgt worden. Begründung: Solche Formulierungen könnten das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen verletzen. Selbert kritisierte unter vernehmlichen Unmutsbekundungen der 120 Zuhörer, dass man hier unliebsame Aussagen tilge anstatt gegen die wachsende Ungleichheit vorzugehen. Im Gegenzug stelle man angebliche Erfolge auf dem Arbeitsmarkt in den Armutsbericht ein, die nur über sinkende Einkommen und Löhne im Niedriglohnsektor zu Stande kämen.

Selbert beklagte weiterhin das wachsende Armutsrisiko für viele Menschen im Alter. Nach einer Einschätzung des Arbeitsministeriums werden im Jahr 2030 Menschen mit einem heutigen Durchschnittseinkommen von 2500 Euro nur noch eine Rente in Höhe der Grundsicherung erhalten. Insbesondere Frauen, Behinderte, Kranke und Menschen mit Brüchen im Arbeitsleben seien davon betroffen.  

Um Armut besser bekämpfen zu können, forderte Susanne Selbert bessere Bildungsmöglichkeiten und Chancengleichheit für Jugendliche aus benachteiligen Milieus.  Dazu seien gut ausgestattete Kindertagesstätten und Ganztagsschulen nötig und dass alle jungen Menschen einen Ausbildungsplatz entsprechend ihrer Fähigkeiten erhalten.

Zusammenfassend forderte die Referentin einen neuen Gesellschaftsvertrag, der das Zusammenleben und das Wohlbefinden der Menschen in Stadt und Land fördere. Dafür sei es notwendig, die gegenwärtige Wachstumsideologie zu überwinden und stärker nach den Bedingungen zu fragen, unter denen Menschen lebenswert leben können.

Dr. Jochen Gerlach moderierte den Vortragsabend
Dr. Jochen Gerlach moderierte den Vortragsabend

Die anschließende Diskussion wurde von Pfarrer Dr. Jochen Gerlach, dem Leiter des Arbeitsbereiches Wirtschaft, Arbeit, Soziales moderiert. Zahlreiche Redner wiesen auf ihre Empörung über die ungerechte und wachsende Einkommensschere in Deutschland hin. Insbesondere die von der ARD berichteten Missstände beim Online-Buchhändler Amazon standen in der Kritik. Und auch die Kapitalismuskritik des Chefredakteurs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, wurde zitiert und mit deutlichen Forderungen zu einem Umsteuern an die Politik verbunden.

Abschied vom Drei-G-Mann

Horst Pilgram-Knobel
Horst Pilgram-Knobel

Horst Pilgram-Knobel war 36 Jahre als Evangelischer Sozialsekretär tätig. Im zweiten Teil des Abends wurde er in den Ruhestand verabschiedet. Dabei zeigte sich in den zahlreichen Grußworten von Weggefährten die große Wertschätzung für den engagierten und streitbaren Mitarbeiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt. Dr. Jochen Gerlach beschrieb ihn als konstruktiven Zwischenrufer und Kritiker, den er sehr geschätzt habe.  

Michael Roth, Bundestagabgeordneter der SPD und Landessynodaler würdigte Pilgram-Knobel als jemanden, der sich schon seit 1978 mit dem Arbeitsrecht in der Kirche auseinandergesetzt habe und Tarifverträge auch für kirchliche Mitarbeiter gefordert hatte. Kirche müsse glaubwürdig sein, das habe Pilgram-Knobel in seiner Tätigkeit geleitet und ihn zum Ansprechpartner und Hoffnungsträger für die Menschen in den Betrieben gemacht.

Friedrich Nothhelfer (v.l.n.r.), Hans Schweinsberger von der IG BCE, Horst Pilgram-Knobel, Bergmann – Übergabe einer Grubenlampe
Friedrich Nothhelfer (v.l.n.r.), Hans Schweinsberger von der IG BCE, Horst Pilgram-Knobel, Bergmann – Übergabe einer Grubenlampe

Dies wurde auch deutlich in weiteren Grußworten und musikalischen Beiträgen von Gewerkschaftern, Vertretern von Arbeitsloseninitiativen und Weggefährten aus der Bildungsarbeit. Hans Schweinsberger von der IG Bergbau, Chemie, Energie dankte dem scheidenden Sozialsekretär und beschrieb ihn als den 3-G-Mann: Gewerkschafter, Gottesmann und guter Kumpel.

Pfarrer .i.R. Herbert Lucan
Pfarrer .i.R. Herbert Lucan

Sehr persönliche Worte fand der ehemalige Leiter des Arbeitsbereiches Pfarrer i.R. Herbert Lucan. 30 Jahre hatte er mit Horst Pilgram-Knobel zusammengearbeitet. Er beschrieb dies als eine Zeit in der sich Respekt, Zuneigung und kritische Solidarität entwickelt hätten. Die Rolle von Pilgram-Knobel im Team charakterisierte er folgendermaßen: „Wenn die Harmonie zu groß wurde und sich Wichtigtuer und Karrieristen in Szene setzten, dann sorgtest Du mit bohrenden Fragen oder bissigen Bemerkungen für heilsame Unruhe. Wenn die Wellen hochgingen und die Meinungen behieltest Du einen kühlen Kopf und versuchtest mit einen pragmatischen Vermittlungsvorschlag die starren Fronten aufzuweichen.“ Nach außen habe Pilgram-Knobel in Zeiten wachsender Massenarbeitslosigkeit glaubwürdig eine Kirche vertreten, die nicht nur redet, sondern an der Seite der Menschen stehe.

Das Team verabschiedet Horst Pilgram-Knobel. Am Pult Martina Spohr (Foto: Thomas Aleschewsky)
Das Team verabschiedet Horst Pilgram-Knobel. Am Pult Martina Spohr (Foto: Thomas Aleschewsky)

Den Dank des Teams des Arbeitsbereiches Wirtschaft-Arbeit-Soziales überbrachte Kollegin und Nachfolgerin Martina Spohr. Sie beschrieb Pilgram-Knobel als freundlich lächelnden Mann mit einem karierten Hemd, der viele Weggefährtinnen und Weggefährten, die ihn sehr schätzen, zurücklässt auf einem guten Weg, der den Familienmenschen Horst zu seiner Familie führt, die ihn freudig erwartet. Und genau das hatte der Karikaturist der Frankfurter Rundschau, Thomas Plaßmann, auf dem Geschenk des Teams für den scheidenden Kollegen Horst Pilgram-Knobel festgehalten.

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