In schwierigen Zeiten viel erreicht

 

Vertreter von Evangelischer Kirche und Regierungspräsidium treffen sich in der Erstaufnahme Einrichtung für Flüchtlinge in Neustadt

 

Von Karl-Günter Balzer

Neustadt. Es ist mittlerweile der siebte Besuch, den Prof. Dr. Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), in einer Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung  für Flüchtlinge (HEAE) gemacht hat. Es sei ihm wichtig, zu zeigen, dass die Kirche sich für Flüchtlinge engagiere, begründet der Bischof sein Interesse. Jetzt war die Einrichtung in Neustadt dran. Und so kam es zu einem Zusammentreffen von Vertretern der Landeskirche und der Diakonie mit denen des Regierungspräsidiums Gießen und der Stadt Neustadt.

 

 „Es waren spannende Zeiten“, erinnert sich Dr. Christoph Ullrich, Regierungspräsident in Gießen und Gastgeber in Neustadt, an die vielen Flüchtlinge, die vergangenes Jahr nach Deutschland kamen. Hessen nimmt 7, 5 Prozent von ihnen auf. In den Jahren bis 2013 kamen monatlich weniger als 2000 Menschen. Im Jahr 2014 begann die Zahl der Asylsuchenden langsam anzusteigen. Im vergangenen Jahr ging die Kurve steil nach oben. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im November 2015 kamen 19.041 Menschen nach Hessen. Damit hatte niemand gerechnet.

 

Es musste improvisiert werden. Der Regierungspräsident erinnert sich, wie in kürzester Zeit überall in Hessen Erstaufnahmeeinrichtungen geschaffen wurden. Eine Vielzahl von Mitarbeitern aus unterschiedlichsten Behörden und Landeseinrichtungen wurden herangezogen. Und so kam es, dass von einen Tag auf den anderen Leute, die sich zuvor z. B. mit Kultur oder Katastern beschäftigt hatten, nun in der Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen eingesetzt wurden. Christoph Ullrich ist stolz auf das, was in diesen Zeiten alles geschafft wurde. Er berichtete auch vom Aufbau der Strukturen durch die Hessische Landesregierung, um langfristig von provisorischen Unterkünften und Übergangslösungen weg zu festen Gebäuden und geordneten Abläufen übergehen zu können.

 

Auch bei Bischof Hein mischt sich in die Erinnerung der Stolz auf das Engagement der Kirche. „Wir  haben uns anrühren lassen“, stellt er fest. Sehr schnell wurde eine Million Euro im landeskirchlichen Haushalt zur Unterstützung und Anregung von Projekten zur Flüchtlingsversorgung umgeschichtet. In vielen Kirchengemeinden wurde gesammelt. Das ehemalige Freizeitenheim in Niedenstein wurde zur Unterkunft für Flüchtlinge umgebaut.

 

Und dann ist da natürlich noch das große Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Zwei von Ihnen sind zu dem Treffen gekommen: Barbara und Roland Schade bringen den Asylsuchenden Deutsch bei. Sie sind zwei von 50 engagierten Menschen, die sich in Neustadt um die Flüchtlinge kümmern. Andere Ehrenamtliche erklären im Kurs „Typisch Deutsch“ wie die Menschen hier ticken und ihr Zusammenleben gestalten. Wieder andere Helfer organisieren Treffen und Hilfe. Ulrich Kling-Böhm, Pfarrer im Diakonischen Werk (DW) Marburg-Biedenkopf, verweist auf die langjährige Erfahrung des DW in der Betreuung und Beratung von Flüchtlingen. Neben den vielen Ehrenamtlichen, die sich auf Seiten der Kirche engagieren, finanziert das DW-Marburg-Biedenkopf seit 23 Jahren eine Stelle zur Flüchtlingsberatung. Mit Christina Schnepel und Petra Zimmer sind zudem zwei Pfarrerinnen mitgekommen, die sich im Rahmen ihres Dienstes mit Flucht und Migration, sowie der Seelsorge an Flüchtlingen engagieren.

 

Ein südliches Flair liegt an diesem Spätsommertag über dem Gelände der HEAE in Neustadt. Das Gras ist vertrocknet, aber unter den alten Bäumen liegt Schatten. Kinder lachen, spielen, winken. Überall sind Flüchtlinge damit beschäftigt, Müll aufzusammeln. Sie schauen interessiert, manche grüßen freundlich. Dominik  Zutz, der Leiter der HEAE Neustadt führt über das Gelände, schließt ein Zimmer mit drei Stockbetten und Spinden auf. Das hier ist eine ehemalige Kaserne, das ist zu sehen. Seit 2008 stand sie leer, begann zu verfallen, erläutert Thomas Groll, der Bürgermeister von Neustadt. Dann wurden Häuser und Gelände 2015 unter Hochdruck zur Erstaufnahmeeinrichtung umgebaut. 1100 Schlafplätze entstanden in den ehemaligen Gebäuden der Bundeswehr. Zur Zeit wohnen noch 503 Flüchtlinge in der Einrichtung.

 

„Das Miteinander ist gut in Neustadt“, befindet der Bürgermeister. Und damit meint er das Miteinander sowohl in der Einrichtung als auch mit den Bewohnern der Stadt. Trotzdem habe die AfD hier 15 Prozent, erläutert er. Regierungspräsident Ullrich befindet, dass die politische Diskussion angesichts der  Zahlen derer, die als Flüchtlinge gekommen sind, übertrieben sei. Es seien natürlich nicht nur Engel gekommen. Aber mit Thomas Groll ist er sich einig, dass die Kriminalität dem normalen Querschnitt der Bevölkerung entspricht.  „Der überwiegende Teil der Flüchtlinge hält sich an die Gesetze“, erklärt Ullrich.

 

Und dann ist da noch die Kampagne von Open Doors, einer evangelikalen Gruppe, die über die Unterdrückung von Christen durch Muslime berichtete. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat die Vorwürfe von Open Doors bereits widerlegt. „Es gibt keine irgendwie geartete Unterdrückung von Christen in einer HEAE“, bekräftigt Ralf Stettner, der als Ministerialrat für die hessischen Einrichtungen zuständig ist. Man sei bei diesem Thema sehr aufmerksam und gehe jedem Einzelfall nach. Auch Christina Schnepel, die Beauftragte für Flucht und Migration der EKKW, stimmt aufgrund eigener Recherchen der Einschätzung voll und ganz zu. Die Open-Doors-Kampagne war also wohl wenig hilfreich und hat eher ein Zerrbild gemalt.

 

Am Ende würdigen beide Delegationen noch einmal die gute Zusammenarbeit zwischen staatlichen, kommunalen und kirchlichen Akteuren und befinden, dass sie noch weiter ausgebaut werden solle. (15.09.2016)